MARIO DER BARBIER
AUS BUSSOLENO
Das Gespräch fand am 14. April 2015 in der Bar von Bussoleno statt
Anfang Sommer 2011 nimmt das Projekt des TAV (TGV) Lyon-Turin im „Val de Susa“ (deu. Susatal) wieder Fahrt auf. Das Tunnelbauprojekt soll ein kleines Stück oberhalb des kleinen Dorfes Chiomonte, im Maddalena, einem sehr wichtigen archäologischen Gebiet, beginnen. Doch seit Beginn dieses Projekts besetzt die Bewegung des „NoTAV“ jedes Mal, wenn Arbeiten vorgesehen sind, in weiser Voraussicht die Orte, an denen das Projekt realisiert wer-den soll und verwehrt so der Polizei und den Baumaschinen den Zutritt. Dies zeichnete sich so auch im Mai 2011 ab. Hinter riesigen Barrikaden übernahmen die NoTAV einen Teil des Tals und gründeten die „freie Republik von Maddalena“. Eine Kommune, ein ZAD , welches 35 Tage andauern würde. Am 27. Juni erstickte das Tal im Nebel des Tränengases und die Militärpolizei übernahm am Ende den Bauplatz. Sie bauten in Eile eine Befestigungsanlage, mit Mauern, Nato- und Stacheldraht, eine Serie von mit der Autobahn verbundenen militärischen Infrastrukturanlagen, in denen sie sich verbarrikadierten.
Eine Woche später rief die Bewegung zu einer großen Demonstration auf mit dem Ziel, das Gebiet wieder zu übernehmen. Am 3. Juli setzten sich 70.000 Menschen in drei Fingern in Bewegung und kreisten die Befestigungsanlage ein, zerschnitten die Gitterzäune und versuchten den ganzen Tag lang die Polizei zu vertreiben. Doch als sich aber die Nacht senkte, stand die Befestigungsanlage noch immer.
Im Januar 2012 wurden in ganz Italien über 40 Menschen der NoTAV-Bewegung festgenommen und für Sachen und Dinge verantwortlich gemacht, die am 27. Juni und am 3. Juli vorgefallen sein sollen. Drei Jahre später, im Januar 2015, fielen die Urteile für 47 der 53 Festgenommenen. Zusammengezählt wurden für alle über 140 Jahre Gefängnis verhängt und unglaublich hohe Geldstrafen und Schmerzensgeldzahlungen an Polizeibeamte und Regierung vorgesehen. Die Gefängnis-strafen wurden zwar bis zur Verhandlung des Rekurses ausgesetzt, doch wurde stattdessen die provisorische Zahlung von 140.000 Euro angesetzt. Sollten diese nicht bezahlt werden, drohen Beschlagnahmungen.
Diese Summe wurde auf verschiedene Gruppen von Beschuldigten aufgeteilt, die diese „solidarisch“ bezahlen müssen. Zum Beispiel wurde eine Gruppe aus 10 Personen verurteilt 60.000 Euro zu bezahlen und wenn einige nicht zahlen können oder wollen, so werden diese fehlenden Beträge automatisch auf die Personen, die bezahlen können, abgewälzt. Diese sollten dann direkt bezahlen oder dies könnte von einem Teil des Lohnes oder des Eigentums abgezogen und so eingetrieben werden. Mario, 62 Jahre alt, Barbier in Bussoleno war einer dieser 47 Beschuldigten.
Was ist da passiert am 3. Juli?
Ich war bei der Clarea , unser Finger war friedlich, normal. Sie (die Polizei) begannen Tränengas auf uns zu schießen, das hat mich so aufgeregt, diesen beißenden, brennenden Rauch einzuatmen, der in den Augen kratzte und mich zum heulen brachte. Von Zeit zu Zeit habe ich einige Steine gesammelt und schmiss sie in Richtung der Polizei. Das ist einfach so, da lässt sich nichts diskutieren, ich hatte keine Schuldgefühle, man könnte sagen, dass ich schon fast stolz darauf bin, weil nach diesem ganzen Gas, mit dem sie dich beschiessen, ist das einzige, was du tun möchtest, irgendetwas zu nehmen und es in ihre Richtung und Reihen zu schmeißen.
Hast du erwartet, am 26. Januar 2012 verhaftet zu werden?
An einem Samstag im November 2011 betrat ein Mann mein Geschäft und fragte mich: „Können Sie mir den Bart ras-ieren?“ Ich erwiderte ihm: „Ja, natürlich, wenn Sie das Geld haben!“ Ich machte also diesen Scherz, und er setzte sich. Drei oder vier Minuten später betraten zwei Typen mit finsterer Miene und eine junge, hübsche, blonde Frau meinen Laden, wobei sie ihre Ausweise präsentierten: „Staatspolizei“. Sie wandten sich an den Herrn und verlangten seine Papiere. Er hat ein wenig gezögert, bis er sich erhob und in seiner Jacke sein Portemonnaie hervor suchte. Sie kontrollierten ihn, dann haben sie von uns allen, meinen Kunden und mir, die Papiere verlangt. Sie blieben lange in meinem Laden, bis sie uns alle identifiziert hatten. Am Ende nahmen sie diesen einen Typen mit. Er protestierte dagegen: „Aber ich wollte mir einfach den Bart machen lassen“, ich habe mir dabei gedacht: „Jetzt werden sie ihn dir machen oder du machst ihn dir selbst…“. Aber in Wahrheit waren sie eigentlich dabei, mir den Bart zu stutzen, denn eigentlich sind sie nur hierhergekommen, um mich zu identifizieren, dieser Kunde war in Wahrheit auch nur Polizist, aber das ist mir erst viel später aufgefallen, am 26. dann, als sie mich festnahmen. In meiner Akte steht geschrieben: „Identifiziert am 8. oder 9. November – ich weiß nicht mehr – in seinem Friseursalon Nr. 19 der Via Traforo“ mit einem Foto meines Personalausweises. Als sie mich dann verhafteten, sagte ich zu ihnen: „Sicher, ihr wolltet, dass ich euch den Bart stutze, aber in Wirklichkeit habt ihr mir den Bart gestutzt und zwar so richtig, ihr seid wirklich richtig kleine Bastarde“. Und sie lachten darüber. Aber eigentlich hätten sie nur in meinen Salon kommen und „Papiere!“ sagen müssen, was hätte ich schon machen können, Nein sagen? Sie hätten nicht dieses bescheuerte Theater machen brauchen, diese lächerliche napoletanische Komödie. Um solche Dinge abzuziehen muss man schon wirklich bescheuert sein, italienische Bullen eben.
Erzähl uns, wie sind die Verhaftung und die Haus-durchsuchungen verlaufen, wie erging es dir?
Sie sind morgens gegen 5:30 aufgetaucht, als Gruppe. Ich hab noch geschlafen, meine Frau schaute vom Balkon und sah 2 Polizisten in Uniform. Sie sagte: „Da ist die Polizei, unseren Söhnen ist irgend-etwas zugestoßen!“ Aufgeregt rannte sie in das Zimmer unserer Söhne und sah, dass alle drei noch da waren. Ich dachte mir: „Lieber einen dreckigen Prozess als eine schöne Beerdigung!“ Selbst wenn sie Blödsinn gemacht hätten, sind sie wenigstens da. Ich begann ein wenig ruhiger zu werden. „Ruhig“ in Anführungszeichen, soweit man von ruhig sprechen kann, weil wenn du die Bullen bei dir zu Hause hast, kannst du nicht wirklich ruhig sein. Also gingen wir hinab, wir öffneten die Haustür und sie schmissen sich und sprang-en einfach hinein. Ich sagte mir: „Die bringen ihn in den Bau, diese Bastarde“. Schreib das, ist mir scheißegal: „Diese Bastarde nehmen ihn mit“. Als ich verstand, nur einen kleinen Moment später, nicht sofort, dass es um mich ging, war es für mich, als ob ich den riesigen Brocken, der mir auf dem Magen lag, zu verdauen begann. Nicht dass es mich glücklich machte, mitgehen zu müssen, aber wenn ich zwischen ihm und mir wählen müsste, war es mir lieber, dass ich ging.
Während der Hausdurchsuchung haben sich die Polizisten gut benommen, da kann ich nichts sagen. Als sie begannen zu suchen, fragte ich sie: „Aber was sucht ihr denn?“. Sie waren ruhig, nicht wahr, sie schmissen nicht gleich alles auf den Boden, sie waren ruhig. Ich begann nochmals: „Aber was sucht ihr denn? Drogen, Falschgeld? Sagts mir, ich gebs euch, wenn ich kann.“ Darauf sagten sie mir: „Eine graue Hose, ein schwarzes T-shirt, einen schwarzen Schal, eine Mütze mit der Aufschrift Becks und einen beigen Ruck-sack.“ Also sagte ich: „Wenn das eure Probleme sind, kommt, ich werde sie euch geben“, und sie brachen die Hausdurchsuchung ab. Dann wollten sie mich mitnehmen, aber ich sagte ihnen:
– Hört zu Jungs, ich muss meine Hühner und Enten füttern. Kommt doch mit und ihr könnt alles kontrollieren, kommt mit, los!
– Das ist nicht möglich.
– Wenn das so ist, dann sage ich später, dass ihr mich daran gehindert habt, meine Enten zu füttern und dass sie deshalb verhungert sind. Weil ich sah, dass sie zögerten, fügte ich hinzu: „Da ist noch ein kleiner Lagerraum, da könnte etwas versteckt sein. Und während ihr ihn durchsucht, füttere ich meine kleinen Enten.“ Und schließlich sind sie mit mir mitgekommen, bevor sie mich dann mitnahmen.
Was ist während dieser Zeit in Bussoleno passiert?
Als sie mich festnahmen, unternahmen die NoTAV und die Einwohner*innen des Tals einen Fackelmarsch, der an meinem Geschäft vorbeiführte, und sie ermunterten alle Geschäftsleute der Stadt, Lichter in den Schaufenstern anzuzünden und selbst als die Geschäfte geschlossen waren, brannten diese weiter. Es waren keine zwei Geschäfte, die sich nicht beteiligten, weil hier in Bussoleno lieben mich alle!
Erzähl, wie war deine Zeit im Gefängnis?
Als wir im Gefängnis ankamen, behandelten uns all die anderen Gefangen wie Götter, sie wollten alles wissen, was uns widerfahren war. Da war eine wirklich greifbare Solidarität… unglaublich. Wir wurden Donnerstagmorgen festgenommen und wurden Donnerstagabend nach all den bürokratischen Formalitäten eingebuchtet. Und wie soll ich sagen… um eine Flasche normales Wasser zu bekommen, nicht das Zeug aus den Hähnen des Gefängnisses, musst du normalerweise bis zum folgenden Mittwoch warten, weil du kannst Essen und Trinken ausschließlich am Dienstag und am Donnerstag bestellen. Und weil wir also erst am Donnerstagabend rein kamen, hatten wir keine Möglichkeit, etwas zu bekommen. Aber all die anderen brachten uns sofort Teller, zu trinken, Zigaretten, usw. Ich weiß echt nicht, wie ich das erklären soll, es wirkte so, als wären wir wie Helden für die anderen da drin. Eines Abends, da war so ein Typ, der Giovanni hieß, er brachte die Mahlzeiten. Er kam zu uns und sagte uns: „Tagliatelle, Champignons und Creme Fraiche“. Also näherte ich mich, um das Essen entgegenzunehmen, aber das war so ein Zeug, komplett verklebt, unappetitlich, daher nahmen wir gar nichts. Weiter gab es noch Hähnchen im Angebot, aber das war eher eine Parodie, ein wirklich widerliches Zeug. Ich gab ihm zu verstehen: „Nein, nein, aber vielen Dank, sie haben uns schon jede Menge Früchte gebracht und Brot – das war gut, weil sie das im Knast selber machten – und das reicht uns“ Er sagte uns: „Jungs, ihr könnt nicht einfach so nichts Ordentliches es-sen.“ Nach kurzer Zeit kam er wieder, aber diesmal mit zwei Packungen Rohschinken, ich weiß nicht wo er die her hatte, weiter vier Fenchel, und vielleicht zwanzig Süßwaren und dazu sagte er uns: „Jungs, esst bitte zumindest das hier!“ Das war wirklich unglaublich! Am Sonntagabend gaben sie uns normal-erweise kein Essen und dann kam aber beim Ausgang ein Typ zu mir und sagte: „Ihr wisst schon, dass sie uns heute Abend nichts zu essen geben? Ich werde für euch kochen!“ Wir sagten zu, aber kurze Zeit später kamen noch zwei andere Jungs während der „Sozialisierungsstunde“ auf uns zu und sagten sie würden uns gerne in ihre Zelle einladen: „Kommt ihr zu uns in die Zelle essen? Weil ihr habt ja gar kein Fernseh-gerät, ihr habt aber dafür eine Stunde mehr, um außerhalb der Zelle zu sein“ ich sagte „ok“, aber ich vergaß komplett, dass da noch der andere Kerl war, der für uns kochen wollten. Aber er kam und fragte uns, weil er in der Zelle nebenan war und zugehört hatte: „Esst ihr mit mir oder soll ich euch das Essen in die Zelle bringen?“ Ich sagte ihm: „nein, wir essen hier“. Wirklich sehr schön angerichtete Teller kamen, sehr gut gekocht, direkt nach Hause geliefert, wir teilten sie durch vier und aßen außerdem noch Nudeln, die diejenigen von der Zelle auf den Herd gestellt hatten und mit Öl, Röstbrot und Paprika anrichteten. Das war einfach wunderbar! An einem anderen Tag kam einer der Ältesten des Knasts und fragte: „Kannst du mir die Haare ein bisschen schneiden?“ „Wenn ich das kann!“ Und er kam mit einer elektrischen Haarschermaschine und mit einer stumpfen Papier-schere. Ich sagte ihm: „Aber Dante, wie soll ich das denn bitte machen?“ „Mach was du kannst!“ Also schnitt ich ihm mit der Haarschermaschine die Haare und er schaute in einen Spiegel und sagte zu mir: „Bravo Mario!“ Er war wirklich sehr nett. Einige der Jungs die ich dort drinnen kennenlernte, treffe ich auch noch heute regelmäßig. Einer von ihnen betreibt heute eine Bar in Turin, und von Zeit zu Zeit fahre ich ihn besuchen.
Kannst du uns deine Entlassung schildern?
Sie nahmen mich am Donnerstag dem 26ten fest und entließen mich dann am Montag dem 30ten gegen 19 Uhr. Das war derselbe Tag, an dem ich vom Staatsanwalt vernommen worden war. Um es kurz zu machen: Diese kleinen, miesen Bastarde haben meine Verhaftung bestätigt. Also sagte ich zu meinem Anwalt: „Frag meine Frau, ob sie mir 100 Euro und eine Jacke gegen die Kälte schicken kann, usw.“. Er sagte mir: „Bleib ruhig, ich bring dich heute Abend raus“. Als die Bullen mich damals mitnahmen, sagte ich zu meiner Frau „Ich komme in zwanzig Tagen wieder“. Ich hatte es so beschlossen: Sie hielten mich zwanzig Tage fest, das war genau meine Idee. Und so war ich an einem Montagabend mit einem Kollegen im Ausgang, und auch er hatte die Hoffnung rauszukommen, wir gingen vor und zurück, usw. Und dann auf einmal kam da ein Polizist auf uns zugelaufen, der uns zu rief „Nucera! Hausarrest, mach dich fertig!“. Und ich, ich stand da und schaute blöd aus der Wäsche. Ich war vorher so überzeugt davon gewesen, dass sie mich nicht entließen. Also ließ ich meine Zellennachbarn alleine, aber ich schwöre dir, das gefiel mir ganz und gar nicht, weil wir waren… der andere Gefangene und ich, wir beide hofften rauszukommen, also begann ich mich von einem nach dem anderen zu verabschieden, bis auf einmal ein Brüllen zu hören war: „Nucera, willst du rauskommen oder hier-bleiben?“, und ich antwortete: „Ihr habt mich hier hergebracht, und ihr habt es mir ermöglicht, viele Freunde kennenzulernen und jetzt wollt ihr mich rausjagen, ohne dass ich mich verab-schieden kann! Doch wenn ihr wollt, dann schließt die Zellen, schließt sie, ich bleibe hier noch eine Nacht länger, aber ich muss alle noch grüßen, bevor ich gehe.“ Ich machte eine komplette Tour und umarmte alle: „Ich bin Barbier in Bussoleno, kommt mich besuchen, usw.“. Und dann brachten sie mich nach draußen. Da warteten dann schon mein Sohn und mein Anwalt auf mich.
Während meiner Abwesenheit war mein Geschäft die ganze Zeit über geöffnet, das waren viele Menschen, die solidarisch mit mir waren. Etimonia hat Leute gefunden, die sich bereit erklärt hatten, an meiner Stelle zu arbeiten – weil als ich draußen war, stand ich noch unter Hausarrest und ich konnte immer noch nicht zu meinem Geschäft gehen, ich musste ja zu Hause bleiben – die Friseurinnen, zwei Frauen des Tals, eine aus Almese, eine aus Borgone, und mein alter Chef, der mir das Handwerk beigebracht hatte und der jetzt im Ruhestand ist, hat gesagt: „Für Mario komme ich zurück an die Arbeit“. Als ich zu Hause ankam, und dann am Abend im Geschäft, erwarteten mich alle, die kommen konnten schon um zu feiern, das war wirklich sehr schön.
Und du bist inzwischen mit Erri De Luca bekannt?
Er hat des Öfteren von mir gesprochen, in seinen Büchern und auch in den Radiobeiträgen. In seinem letzten Buch z.B., hat er sogar schon von mir gesprochen, obwohl er mich noch gar nicht persönlich kannte! Ich erklär‘s dir mal warum: Der Staatsanwalt gab eine Erklärung ab, dass man dem Barbier aus Bussoleno das Schmeißen von Steinen auf Sicherheitskräfte, das Zerschneiden von Zäunen verzeihen könne, aber einem Schriftsteller, einem Intellektuellen wie De Luca nicht . Also hat De Luca gesagt: „Scheisse, wer ist denn das, dieser Barbier?“ Also haben wir uns getroffen! Ich selbst habe dann nach meiner Verurteilung noch geantwortet: „Drei Jahre und zwei Monate Gefängnis! Glücklicherweise verzeihen sie mir, was wäre denn das gewesen, wenn sie mir nicht verziehen hätten!“
Erzähl, wie ist der Prozess vor sich gegangen?
Am Anfang warfen sie mir vor, ich hätte 17 Polizisten verletzt, bis zum Prozess konnten sie mir aber nicht mehr als 8 benen-nen. Ich bekomm es einfach nicht hin zu verstehen, weshalb sie mir all diese Jahre aufbrummen wollen: Drei Jahre und zwei Monate Gefängnis! Ich hatte richtig Lust meine Schuhe auszuziehen und sie in Richtung dieses Herren, des Richters, zu werfen. Aber du beherrscht dich dann eben. Die Anwälte fertigten eine ballistische Analyse an: zwischen mir und den Polizisten bestand eine Entfernung von 54 Metern. Erri De Luca sagte mal, als er sich über mich lustig machen wollte, während wir auf einer Bühne in Rivalta standen: „Los, lass mich die Arme eines olympischen Champ-ion sehen!“ In den Beweisvideos der Polizei gibt es wirklich sehr schöne Aufnahmen von mir, so gegen 14 Uhr. Ich könnte ein richtiger Schauspieler sein! Man sieht mich Steine aufsammeln, diese dann in eine Ecke legen, eine ganze Menge zusammen sammeln, meinen Rucksack füllen und dann, wie ich damit beginne, die Steine zu schmeißen. Aber das deckte sich überhaupt nicht mit den Aussagen der Polizisten, die angaben, gegen 16:30 verletzt worden zu sein. Mit diesem Prozess, denke ich, wollten sie das saubere Antlitz der Bewegung treffen. Nicht, weil die anderen dreckiger wären, aber ich denke, der Barbier aus Bussoleno, ein juristisch Unbescholtener, der noch nie etwas mit der Justiz zu tun hatte… Lasst uns den angreifen, um an ihm ein Exempel zu statuieren. Wenn wir Mario ausschalten können, können wir alle möglichen Leute ausschalten, ihr seid gewarnt!
Wie ist deine Beziehung zu den Anwälten?
Außergewöhnlich! Das war keine Beziehung zwischen einem Anwalt und seinem Klienten, das war eine sehr freundschaft-liche Beziehung. Einmal kam Cristina , wir trafen uns vor dem Credenza , wir umarmten uns, das war Freundschaft. Wir kannten uns vorher nicht. Wir, die NoTAV, wir haben viele Anwälte. Meine beiden, Cristina und Manuele sind nur für mich da und ein paar andere teilen wir uns. Das ist wirklich ein freundschaftliches Verhältnis. Sie arbeiten ohne Bezahlung, sie verbringen damit sehr viel Zeit und sie machen ihre Arbeit wirklich leidenschaftlich, weil sie an die Berechtigung des NoTAV glauben. Von Zeit zu Zeit schneide ich ihnen die Haare, das ist eine schöne Beziehung, eine Sache, von der du vorher nie geglaubt hättest, sie wäre möglich. Ich hab das 62 Jahre nicht geglaubt… Klar, dass es nicht schön ist ins Gefängnis zu gehen, aber es lehrt dich einiges.
Hat dein Gefängnisaufenthalt deine Sicht auf die sieben des Terrorismus angeklagten Menschen ver-ändert?
Ich muss meine Sicht nicht ändern, weil ich bin sowieso auf ihrer Seite. Ich habe dieselben Ideen und Anschauung wie sie.
Ich finde es total absurd, dass sie auf solche Weise so lange im Gefängnis festgehalten wurden. Das ist wirklich ziemlich blamabel wenn das der Staat ist, wenn das die Justiz ist… Wie kann es sein, dass Leute die einen Generator angezündet haben sollen immer noch drinne sind, und andere, die Unschuldige getötet haben, wieder draußen sind? Wir befinden uns außer-halb jedweder Verhältnismäßigkeit. Ich muss keine Sicht, keine Idee ändern, meine Anschauung ist auch die ihre. Ich kenne sie nicht persönlich, aber ich bin auf ihrer Seite.
Denkst du, du musst wieder in Gefängnis?
Also die Urteilsverkündung von 3 Jahren und 2 Monaten ist mir scheissegal, wenn sie mich reinstecken wollen, sollen sie mich rein-stecken, mir ist‘s scheissegal, entschuldige den Ausdruck, aber wenn sie einen Märtyrer haben wollen, bekommen sie ihn. Mein Problem ist eher, dass diese Bastarde mein Haus antasten könnten, dass sie es beschlagnahmen. Das, was sie im Moment von mir verlangen, eine einstweilige Anzahlung, die Bewegung deckt das, doch von einem auf den anderen Moment können sie von mir Zehntausende von Euros verlangen… Die Beweg¬ung hat mir schon gesagt: Mario, bleib ruhig, wir haben das Geld, wir bezahlen. Aber das, was mir wirklich zu schaffen, ist das Haus, weil wenn sie mir einfach das Haus nehmen, das ist das, wofür ich mich mein ganzes Leben aufgeopfert habe, das gehört nicht einfach nur mir, sie greifen damit meine ganze Familie an. Hier und jetzt verlangen sie von mir erstmal 7000 Euro und sie verlangen noch 30’000 Euro für die Polizisten. Na gut, aber dafür müssen sie erstmal einen Zivilprozess gegen mich führen und meine Anwälte haben mir erklärt, dass das für sie nicht ganz so einfach ist. Aber das eigentliche Problem ist, dass der Staats-anwalt von den 47 Angeklagten insgesamt 1,2 Millionen Euro verlangt, wo wirst du 1,2 Millionen Euro finden? Wirklich, ich sag dir hier, die können mir 2 Monate, 3 Monate geben, nicht dass ich das gerne tue, aber das ist meine geringste Sorge, wenn die glauben, das würde mir was machen, ob mich das berühren würde, nein, die werden es einfach nicht hin¬kriegen meine Anschauung zu ändern, sie werden bei mir gar nichts erreichen. Weil ich weiß, dass ich im Recht bin, mich mein Umfeld liebt, was willst du mehr vom Leben? Diese Richter, die sich der PD unterordnen und hörig sind, wer sind die schon? Für mich zählen nur die Leute um mich herum, alle grüßen mich, alle haben mich gerne, das ist das einzige Wich-tige für mich. Ich muss vor niemanden Rechenschaft ablegen, nur vor den Leuten, die mich umgeben. Ich gehe durch meine Straße und ich sehe, dass die Leute auf meiner Seite sind. Einmal fragten mich Leute im Laden: „Hast du nicht Kunden dadurch verloren?“ Nein, ich hab keinen verloren, im Gegenteil habe ich noch mehr gewonnen, weil ich eben ehrlich bin, ich rede. Ich verteidige meine Ideen. Nicht weil du mein Kunde bist und eine andere Meinung als ich vertrittst bin ich gegen dich, nein, ich respektiere dich, wir diskutieren, wir sprechen miteinander, usw. Du hast deine Ideen und ich habe meine. Zum Beispiel habe ich einige Kunden die SiTAV sind, und mit denen muss man sprechen, weil wenn ich ausschließlich mit NoTAV’s spreche, sagen wir immer die selben Sachen, und ich will das Gegenteil, die Konfrontation. Der Staatsanwalt meinte ich sei ein „Profi der Gewalt“! Stell dir vor! Ich sag zu allen in meinem Laden: Seid vorsichtig, ich bin ein „Profi der Gewalt“! Und trotzdem habe ich immer mehr Kunden.
Kurze Chronologie des
Kampfes von NoTAV
Anfang der 90er-Jahre erfuhren die Bewohner*innen des Susa-tals, dass sie das „fehlende Kettenglied“ im „Korridor 5“ des TGV-Netzes zur Verbindung von Lissabon und Kiev sind. Auf dem Abschnitt Lyon-Turin ist ein 57 Km langer Tunnel nötig, der das Susatal (Italien) mit dem Mauriennetal (Frankreich) verbindet.
1990/2002 – Die Anfänge des Kampfes
Ab 1991 wurden im Tal wichtige Informations-veranstaltungen zu dem Bauprojekt gemacht, die über die Missstände des TAV aufklärten. Diesen und dem starken Engagement der Bürger-meister ist zu verdanken, dass schon 1996 die Demonstra¬tio¬nen mehrere Tausend Menschen groß waren. 1996-1997 gab es die erste Sabotagewelle gegen Baumaterial und Fahrzeuge, die zum TAV gehören, gegen die Autobahn und die Funk¬anten¬nen. Im Frühjahr 1998 wurden 3 Personen mit dem Vor¬wurf des Terrorismus für diese Taten festgenommen, 2 von ihnen, Sole und Baleno, begingen Selbstmord. Die Anschuldi¬gungen gegen sie erweisen sich später als nicht haltbar. Ende der neunziger Jahre bildeten sich dann die ersten lokalen Komitees des NoTAV und die ersten sommerlichen Camps, die sich bis heute halten, entstanden im Tal.
2003/2005 – Die ersten öffentlichen Auseinander-setzungen
Im Jahr 2003 nahmen die Initiativen des NoTAV die ersten Bohrungen ins Visier, die zu dieser Zeit begannen. Das war der Mo¬¬ment, an dem die symbolischen Besetzungen begannen, und überall im Tal presidi (besetzte Hütten, mit denen die für die Bohrungen vorgesehenen Orte verteidigt werden) aus dem Boden schossen.
Die Schlacht von Seghino: Am 30. Oktober 2005, nachdem es gelungen war, einen Bohrer am Ankommen zu hindern, handelten die NoTAV mit der Polizei ein Rückzugabkommen der im Tal stationierten Sicherheitskräfte aus. Aber in der Nacht installierten sie den Bohrer dennoch und brachen so das Abkommen. Am Tag darauf waren die Straßen und Bahnhöfe des unteren Tals von Demonstrant*innen blockiert. Der itali-eni¬sche Staat stellte den Arbeitsort des Bohrers unter militärische Besetzung.
Die freie Republik von Venaus: Einen Monat später wurde ein dauerhaftes Presidio bei Venaus aufgebaut, dort wo ein Forsch-ungstunnel gebaut werden sollte. Am Morgen darauf ließ sich die Polizei auf den Nachbargrundstücken nieder und kontrol-lierte alle Straßen im Umkreis. Das Presidio blieb unterdessen weiter besetzt. Doch am 6. Dezember starteten die Sicherheits-kräfte einen nächtlichen Angriff, bei dem sehr viele Menschen des NoTAV verletzt wurden. Am nächsten Morgen blockierten die Einwohner*innen des Tals die Autobahn, die Überland-straßen, die Eisenbahnlinien. Überall, selbst in den kleinsten Nebenstraßen der Dörfer, wurden Barrikaden errichtet und ein Generalstreik wurde ausgerufen. Am 8. Dezember setzte sich ein Umzug aus 70.000 Menschen in Bewegung, der in das Gebiet Venaus floss und die Sicherheitskräfte, die das Gebiet besetzt hielten, verjagte.
2006/2010 – Die Pause
Im Anschluss an diesen unglaublichen Sieg hielt sich der Status quo in diesem Gebiet während 5 Jahren. Die Bewegung setzte während dieser Zeit seine Basisarbeit fort. Die Gegenseite versuchte währenddessen, die Abgeordneten der Region durch politische Machtspiele von der Bewegung fernzuhalten. „Das Observatorium“ wurde gegründet, um das Projekt umzuge-stalten und Ausgleichszahlungen anzubieten. Das Projekt wurde umgeändert, bis es 2010 wieder aufgenommen wurde.
2010/2011 – Das Imperium schlägt zurück
Eine neue Umfragephase wurde begonnen: 96 Umfragen soll-ten durchgeführt werden, davon 36 im Susatal. In Wirklichkeit finden nur fünf Befragungen statt. Die Multiplikation der zu verteidigenden Orte führt zu einer Zunahme der Presidi. Am 22. Mai 2011 ließ sich das NoTAV in Maddalena nieder, dort, wo die Arbeiten für den Tunnel beginnen sollten. Hinter den Barrikaden wurde die „Freie Republik von Maddale¬na“ geboren: Camp, autonomer Raum, Platz für Feiern und Diskussionen. Am 27. Juni kamen 2500 Polizisten, um diese 35 unglaublichen Tage zu beenden. Sie bauten in kürzester Zeit eine Befestigungsanlage, in welcher sie sich verbarrikadierten. Am 3. Juli versuchten 70’000 Menschen den Erfolg von Venaus zu wiederholen und den Ort wieder einzunehmen, doch vergeblich. Bis zum Ende des Jahres fand eine unberechenbar große Anzahl an Demonstrationen, Angriffen und diversen Initiativen statt gegen das, was immer noch keine Baustelle ist.
2012 – Das Tal ist überall
Das Jahr beginnt mit einer Razzia. Am 26. Januar werden bei um die vierzig Personen der NoTAV Hausdurchsuchungen durchgeführt; die Polizei-operation bezieht sich auf die Auseinandersetzungen vom 27. Juni und vom 3. Juli. Die Solidarität ist massiv und augenblicklich präsent. Am 25. Februar führt eine Demonstration mit 75’000 Teilneh-mer_innen von Bussoleno nach Susa und skandiert: „Wir alle sind der Schwarze Block!“
Zwei Tage später, im Morgengrauen, greift die Polizei ein Presidio an, um den Abstand zur Baustelle zu vergrößern. Während dieser Auseinandersetzungen erleidet Luca einen Elektroschock beim Versuch einem Polizisten zu entkommen, der ihn von einem Strom-masten holen wollte, auf den er geflüchtet war. Darauf folgend wurde die Autobahn besetzt
und viele Barrikaden blockierten für drei Tage die Verkehrs-achsen im Tal. In ganz Italien gab es eine Vielzahl von Solidari-tätsaktionen. Einige Tage später erwachte Luca aus dem Koma.
2013/2015 – Sabotage und Prozesse
Die Prozesse häufen sich, eintausend Prozesse laufen gegen die Bewohner*innen des Susatals. Der 13. Mai 2013, gelingt es einer Gruppe während einem nächtlichen Angriff den abgeschlos-senen Bereich der Baustelle zu betreten und einen Generator abzufackeln. Bis zum Herbst 2013 wurden im Susatal viele verschiedene Sabotageakte gegen an der Baustelle beteiligte Unternehmen durchgeführt. Von Dezember 2013 bis in den Juli 2014 wurden sieben Personen im Zusammenhang mit der Sabo-tage vom 13. Mai verhaftet. Die Vollversammlung des NoTAV spricht sich für die Praxis der Sabotage aus, und ganz beson-ders für diejenige vom 13. Mai mit dem Slogan: „In dieser Nacht waren wir alle dabei!“. Eine große Solidaritätskampagne wurde daraufhin in ganz Italien gestartet.
Die sieben wurden zu Gefängnisstrafen zwischen 34 und 42 Monaten verurteilt. Die Terrorismus-anschuldigungen wurden fallen gelassen und die Verurteilten stehen unter Hausarrest. Im Dezember 2014 trafen Sabotageakte die Eisenbahnlinien in Bologna und Florenz. Einen Monat später, im Riesenprozess zu den Vorfällen im Jahr 2011, wurden 47 Angeklagte zu zusam-men¬¬gerechnet über 140 Jahren Gefängnis und mehreren Hunderttausend Euro Geldstrafen und Schadensersatzforder-ungen verurteilt. Die Frage, wie die Bewegung mit diesen massiven Geldstrafen und Schadensersatzforderungen umge-hen kann und sollte, ist heute eine der wichtigsten Fragen der Bewegung NoTAV.
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„Also ließ ich meine Zellennachbarn alleine, aber ich schwöre dir, das gefiel mir ganz und gar nicht, weil wir waren… der andere Gefangene und ich, wir beide hofften rauszukommen, also begann ich mich von einem nach dem anderen zu verab¬schieden, bis auf einmal ein Brüllen zu hören war: „Nucera, willst du rauskommen oder hier-bleiben?“, und ich antwor¬tete: „Ihr habt mich hier hergebracht, und ihr habt es mir ermöglicht, viele Freunde kennenzulernen und jetzt wollt ihr mich rausjagen, ohne dass ich mich verabschieden kann! Doch wenn ihr wollt, dann schließt die Zellen, schließt sie, ich bleibe hier noch eine Nacht länger, aber ich muss alle noch grüßen, bevor ich gehe.“
La ZAD in Notre-Dame-de-Landes (Frankreich) und die Bewegung des NoTAV im Susatal (Italien) erschütterten die Art politisch zu denken und zu handeln in ihren Ländern grundlegend. Damit diese Erfahrungen des politischen Kampfes und der Auseinandersetzung mit seinen Slogans, wie auch dem Enthusiasmus für die Nachwelt erhalten bleiben, haben wir be-schlo¬s¬sen, nach dem Buch Constellations ein neues Buch zu schreiben welches Anfang 2016 erscheinen wird (Titel: Défendre la zad). Es gibt den Akteuren*innen der Bewegungen einen Raum zu sprechen, also ein Meinungsbild zu zeigen welches sich seit Jahrzehnten nicht leugnen oder verbieten lässt. Bis zur Veröffen-tlichung des Buches, werden einige Gespräche statt¬finden, welche wir zyklisch veröffentlichen werden, damit die Möglichkeit besteht an den Reflexionen rund um die aktuellen Kämpfe teilzu¬haben. Sie sind, wie auch andere Texte, verfügbar auf der Internet¬seite: https://constellations.boum.org/.
Collectif Mauvaise Troupe